
Polyvagal-Theorie
Die drei Zustände des autonomen Nervensystems.

Die Polyvagal-Theorie wurde von dem Neurophysiologen Dr. Stephen Porges entwickelt und beschreibt, wie das autonome Nervensystem (ANS) auf Sicherheit, soziale Interaktion und Bedrohung reagiert. Für mich ist sie ein wertvolles Modell, das meine Arbeit und meine persönliche Sichtweise auf den Menschen und seine Entwicklung stark beeinflusst. Sie hilft zu verstehen, wie unser Körper Stress verarbeitet und wie sich traumatische Erfahrungen sowohl physiologisch als auch psychologisch auswirken. Besonders in der Trauma- und Körpertherapie bietet sie mir die Möglichkeit, Regulationsmechanismen gezielt zu unterstützen und Menschen dabei zu helfen, wieder mehr innere Sicherheit und Resilienz zu erfahren.
Grundlagen der Polyvagal-Theorie
Unser autonomes Nervensystem reguliert unbewusst viele lebenswichtige Prozesse. Es besteht aus zwei Hauptzweigen:
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Sympathisches Nervensystem (SNS): Es aktiviert uns, bereitet uns auf Herausforderungen vor („Kampf- oder Flucht“-Reaktion).
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Parasympathisches Nervensystem (PNS): Es unterstützt Erholung, Regeneration und Entspannung.
Dr. Porges zeigt mit seiner Theorie, dass der parasympathische Anteil des Nervensystems differenziert betrachtet werden muss:
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Der ventrale Vagus-Komplex: Dieser fördert soziale Interaktion, Sicherheit und Entspannung – ein Zustand, in dem wir uns verbunden und lebendig fühlen.
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Der dorsale Vagus-Komplex: Er ist für Schutzmechanismen wie Erstarrung und Rückzug verantwortlich, wenn Bedrohungen überwältigend werden.
Dieses Modell erklärt, warum manche Menschen unter Stress sozial aktiv bleiben, während andere sich zurückziehen oder in einen Zustand der Starre verfallen. In meiner Arbeit beobachte ich immer wieder, wie individuell diese Reaktionsmuster sind und wie entscheidend es ist, ein Verständnis für die eigene physiologische Reaktion zu entwickeln.
Die drei Zustände des autonomen Nervensystems
Dr. Porges beschreibt drei Hauptzustände des Nervensystems, die unser Erleben prägen
1. Soziale Verbundenheit (Ventrale Vagus-Aktivierung):
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Entspannung, Sicherheit, Offenheit für soziale Interaktion
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Gesunde Regulation von Emotionen
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Unterstützt durch Berührung, Blickkontakt, Stimme und soziale Kommunikation
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Ein Zustand, den ich in meiner Arbeit als grundlegende Ressource erlebe
2. Kampf- oder Flucht-Modus (Sympathische Aktivierung):
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Der Körper wird in Alarmbereitschaft versetzt
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Herzfrequenz steigt, Muskeln spannen sich an
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Dieser Modus kann Energie für Veränderung und Handlungsfähigkeit bereitstellen, kann aber auch zu chronischem Stress führen
3. Erstarrung und Rückzug (Dorsale Vagus-Aktivierung):
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Dissoziation, emotionale Taubheit, Erschöpfung
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Reduzierte Herzfrequenz, Antriebslosigkeit
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Ich erlebe, dass dieser Zustand oft mit tiefen Verletzungen oder Trauma zusammenhängt, bei denen Menschen sich machtlos fühlen

Ein Verständnis dieser Zustände hilft mir dabei, Menschen in schwierigen Prozessen zu begleiten und gemeinsam Wege zu finden, wie sie wieder mehr in den Zustand der sozialen Verbundenheit zurückkehren können.
Nervenkreisläufe
– Lebenbedrohung
– Gefahr
– Sicherheit
Das Social Engagement System
Dr. Stephen Porges benennt die Ventrale Vagus-Aktivierung auch als „das Social Engagement System. Es beschreibt, wie unsere Fähigkeit zur sozialen Verbindung unser Wohlbefinden und unsere Selbstregulation beeinflusst. Es zeigt, dass wir uns sicher, entspannt und ausgeglichen fühlen, wenn wir in guten Beziehungen stehen – sei es mit Familie, Freunden oder sogar Haustieren.
Warum ist das wichtig?
Unser Nervensystem reagiert auf unsere Umgebung. Fühlen wir uns sicher und willkommen, entspannt sich unser Körper, wir atmen ruhiger, unser Herzschlag verlangsamt sich, und wir können klarer denken. In diesem Zustand sind wir offen für soziale Begegnungen, können uns ausdrücken und auf unsere Mitmenschen eingehen.
Wie hilft uns das im Alltag?
Wenn wir uns mit anderen verbunden fühlen, sind wir mehr im Hier und Jetzt. Wir müssen nicht in ständiger Alarmbereitschaft sein oder uns zurückziehen, sondern können unser Leben bewusst gestalten. Das bringt mehr Freiheit und Flexibilität, da wir nicht von unbewussten Stressreaktionen gesteuert werden, sondern aktiv entscheiden können, was uns guttut.
Was stärkt unser Social Engagement System?
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Herzliche Begegnungen: Ein Lächeln, ein gutes Gespräch oder eine liebevolle Berührung stärken unser Gefühl von Sicherheit.
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Haustiere: Die ruhige Anwesenheit eines Tieres kann beruhigend wirken und das Gefühl von Geborgenheit fördern.
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Achtsamkeit und Entspannung: Atemübungen, Bewegung oder sanfte Musik helfen, unser Nervensystem zu regulieren.
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Sichere Beziehungen: Menschen, die uns wertschätzen, helfen uns, uns selbst sicherer zu fühlen
Verbindung als Schlüssel zur inneren Balance
Polyvagal-Theorie und Trauma
Trauma beeinflusst die Regulation des Nervensystems oft nachhaltig. Viele Menschen erleben eine dauerhafte Aktivierung im Kampf-/Flucht-Modus oder eine chronische Erstarrung. Dies kann dazu führen, dass der Zugang zu Sicherheit und sozialen Bindungen erschwert wird.
Die Polyvagal-Theorie bietet ein tiefgehendes Verständnis für die Funktionsweise unseres autonomen Nervensystems und dessen Einfluss auf unser emotionales Erleben. Für mich ist sie eine wertvolle Grundlage meiner therapeutischen Arbeit, weil sie zeigt, dass Heilung nicht nur über den Verstand geschieht, sondern dass der Körper eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielt.